Kommentar von Susanne / Meeresakrobaten – 7. Juli 2007
Aktualisierung: Mai 2013
Diese Zeilen sind dem „Delfin-Senior“ Moby (etwa 50 Jahre alt) aus Nürnberg gewidmet, dem bis 2011 ein Umzug in ein geräumiges Freilandbecken bevorsteht, sofern übereifrige „Delfinbefreier“ den Bau der Delfin-Lagune nicht verhindern …
Für und Wider
Man setzt sich im Gespräch mit selbst ernannten Tierschützern schnell in die Nesseln, wenn man sich als Delfin-Freundin für das eine oder andere Delfinarium ausspricht. Da nützen dann auch die von mir vorgebrachten Relativierungen nichts: Selbstverständlich sind viel zu kleine Becken sowie eine Einzelhaltung von Delfinen, aber auch eine Haltung ohne Anregungen und ohne optimale Betreuung strikt abzulehnen. Auch bei diesem Thema gilt – wie bei allen anderen Diskussionen -, das „Streitobjekt“ genauer unter die Lupe zu nehmen, bevor losgezetert wird.
Wildfänge und Nachzuchten
Laut Auskunft der Bundesregierung werden in der Europäischen Gemeinschaft ca. 230 Große Tümmler (Tursiops truncatus) gehalten (Stand Mai 2006). In Deutschland leben mittlerweile noch 18 Tiere, die auf die Delfinarien Duisburg und Nürnberg verteilt sind (Stand 2016).
Die „deutschen Delfine“ setzen sich teils aus Wildfängen (Ursprungsländer der heute in Nürnberg lebenden Delfine: Kuba und USA), teils aus Nachzuchten zusammen. Zu den Nachzuchten gehören unter anderem Nando (1990 in Nürnberg geboren), Naomi (1998 in Nürnberg geboren), Nemo (1986 in Nürnberg geboren), Noah (1993 in Nürnberg geboren) und Sunny (1999 in Soltau geboren und seit 2005 in Nürnberg lebend).
*** Nachtrag 2016: Am 24. Dezember 2015 wurde im Duisburger Zoo Delphis Tochter Debbie geboren. Auch sie ist ein Delfin der zweiten Generation, weil ihre Mutter ebenfalls in Duisburg zur Welt kam. Zwei weitere Neugeborene von 2015 haben leider nicht überlebt.
*** Nachtrag 2014: Am 31. Oktober wurde Sunnys Tochter NAMI geboren. Da die Tiergartenleitung davon ausgeht, dass Noah der Vater des Kalbes ist, handelt es sich bei dem Neugeborenen um einen Delfin in der zweiten Generation.
*** Nachtrag 2013: Im April 2012 kam King auf die Welt. Der kleine Delfinbulle ist der Sohn der Nürnbergerin Naomi, die zurzeit in Harderwijk/Niederlande lebt. King ist bereits eine Nachzucht in der zweiten Generation.
*** Nachtrag November 2011: Im August/September 2011 wurden im Duisburger Zoo drei Delfine geboren: Diego, Dörte und Darwin. Darwin ist eine Nachzucht in zweiter Generation. Seine Mutter Daisy wurde 1996 in Duisburg geboren.
*** Nachtrag 2010: Im August 2010 kam in Harderwijk/Niederlande der kleine Kai auf die Welt, dessen Mutter Nynke aus Nürnberg stammt.
*** Nachtrag Juni 2008: Im August 2007 wurden im Duisburger Zoo die beiden Delfin-Weibchen Dolly und Donna geboren. Dollys Mutter – Delphi – erblickte 1992 in Duisburg das Licht der Welt. Dolly ist somit eine erfolgreiche Nachzucht in der zweiten Generation …
Eine Welt voller Gefahren
Ausgewachsene Große Tümmler haben in Delfinarien eine relativ hohe Lebenserwartung (siehe unten). Neugeborene Delfine dagegen sind vielfältigen Gefahren ausgesetzt.
Immunsystem: „In den ersten drei Lebenswochen entwickelt sich das Immunsystem der Delfine, die ohne jeglichen Immunschutz geboren werden. In den darauffolgenden Wochen und Monaten wird dieser Schutz verstärkt. Die erste Milch enthält einen zeitweiligen Schutz (Antikörper), welcher die Zeit überbrückt, bis das Immunsystem des jungen Delfins funktionsfähig ist.
Gerade diese Periode ist für das Jungtier sehr gefährlich, denn Krankheitserreger haben sozusagen ein leichtes Spiel. Dies führt dazu, dass die Sterblichkeit der Jungtiere sowohl in der Wildbahn als auch in Menschenhand höher als die von erwachsenen Tieren ist.“ (Aus: „Die Fortpflanzung des Großen Tümmlers“, Zoo Duisburg).
Unerfahrenheit: Mehrmals wurde sowohl in Delfinarien als auch in freier Wildbahn beobachtet, dass erstgebärende Delfin-Mütter ihr Jungtier nicht optimal versorgt oder nicht angenommen haben. Die Folge war der Tod des Neugeborenen. Wenn alles gut läuft, lässt die Delfin-Mutter das Kalb in ihrem Sog mitschwimmen, damit das Jungtier nicht so viel Eigenenergie für die Fortbewegung aufbringen muss. Auch verlangsamt sie immer wieder ihre Geschwindigkeit, um dem Jungtier die Möglichkeit zum Trinken zu geben.
Unfälle: Unfälle im offenen Meer und in Delfinarien, bei denen Jungtiere zu Schaden kommen oder sogar sterben, sind meist auf menschliche Fahrlässigkeit zurückzuführen. So werden viele im Verband schwimmenden Delfin-Kühe und Delfin-Kälber durch im Meer schwebende Treibnetze getrennt oder das Muttertier wird als sogenannter Beifang getötet, worauf das zurückbleibende Baby verhungert. (Siehe dazu auch: „Bedrohungen“.)
Die Unfälle in einem Delfinarium sind ganz anderer Art und finden natürlich viel mehr Beachtung als die sich im eigentlichen Lebensraum der Meeressäuger abspielenden „unsichtbaren“ Tragödien.
Im Nürnberger Delfinarium geschah 1998 ein besonders schlimmer Unfall, der (was man gut nachvollziehen kann) Tierschützer auf die Barrikaden brachte: Ein neugeborenes Delfinbaby sprang hinter eine Absperrung am Beckenrand und klemmte sich zwischen der Wand und dem Beckenrand so ein, dass es nicht mehr auftauchen konnte, um Luft zu holen. So musste der kleine Delfin qualvoll ersticken. Dessen Mutter Emy sprang in Panik hinterher und starb an Herzversagen. Solche Vorfälle sind zum Glück äußerst selten. Sie werden aber überzogen dramatisiert, während im offenen Meer (von der Öffentlichkeit unbemerkt) massenweise weiter gestorben wird …
Seit 100 Jahren gibt es Delfinarien
Bereits 1907 wurden im New Yorker Aquarium zwölf Große Tümmler beherbergt. 1938 wurde in Florida das „Marineland“ eröffnet. 20 Jahre später wurden weitere Delfinarien in Amerika und auch in Europa errichtet. Das erste Delfinarium in Deutschland entstand 1965 in Duisburg.
In den USA gibt es laut Dr. Dag Encke – Zooleiter in Nürnberg – bereits Delfin-Nachzuchten in der dritten Generation. Man muss dabei allerdings berücksichtigen, dass Delfine in den USA schon wesentlich länger gehalten werden als in Deutschland.
Lebensalter
Von 16 Wildfängen (Große Tümmler) sind in Nürnberg zwischen 1971 (Eröffnung des Delfinariums) und 2007 11 Tiere gestorben. Von 16 im Delfinarium lebend geborenen Jungtieren sind insgesamt bis heute 12 Kälber verstorben (Quelle: Datenbank Ceta-Base), 5 der Jungtiere (eingeschlossen Sunny aus Soltau) leben heute noch (siehe oben). Die noch lebenden Jungtiere sind alle zwischen 1986 und 1999 geboren.
Im Juni 2007 starben im Tiergarten Nürnberg zwei neugeborene Delfine bereits nach einer Stunde bzw. nach drei Tagen. Für Delfinschützer ist das ein klarer Beweis dafür, dass sich Delfine nicht in Zoo-Anlagen halten lassen. Sie übersehen dabei, dass auch viele im offenen Meer geborenen Jungtiere das erste Lebensjahr nicht erreichen (siehe oben). Ein Großer Tümmler wird (nach verschiedenen Schätzungen) „im Normalfall“ 25 bis 30 Jahre alt. Die in Duisburg und Nürnberg gehaltenen Großen Tümmler sind zwischen 8 und knapp 50 Jahre alt. Die durchschnittliche Lebenserwartung der in Nürnberg lebenden Delfine liegt laut Dr. Dag Encke bei 24 Jahren.
Bittere Zahlen
Ich habe einmal ausgerechnet, wie viele Delfine in ihrem natürlichen Lebensraum das Höchstalter wahrscheinlich nicht erreichen. Nach Schätzungen der Welternährungsbehörde FAO verenden jedes Jahr (!) zwischen 315.000 und einer Million Delfine allein in Treibnetzen. Im Hafen von Taiji/Japan werden jedes Jahr (!) mehrere Hundert Delfine geschlachtet. Es handelt sich hier nicht ausschließlich um Große Tümmler, sondern um verschiedene Delfin-Arten.
Trotzdem ist die Rechnung mehr als erschreckend: Zwischen 1971 und 2007 (also im gleichen Zeitraum, in dem in Nürnberg 22 Große Tümmler gestorben sind) starben weltweit mindestens 11.200.000 Delfine … Und das nicht auf natürliche Weise, sondern „frühzeitig“ durch Menschen Hand!
Dabei ist zu beachten, dass die Großen Tümmler, die in Nürnberg gestorben sind, im Gegensatz zu ihren Artgenossen im weiten Meer allesamt nicht aktiv getötet, also gequält, mit Messern und Haken drangsaliert sowie in Netzen erstickt wurden … Die Delfinariums-Delfine starben in den 1970er-Jahren an Hygienemängeln, Infektionen und mangelhaften Haltungsbedingungen. Außerdem gab es ein paar wenige tragische Unfälle zwischen kämpfenden Delfinen oder weil ein Tier in einer Absperrung hängen geblieben ist (siehe oben).
Delfin-Quäler nicht im Binnenland, sondern auf offenem Meer
Meiner Meinung nach zeigt diese Gegenüberstellung der Zahlen deutlich das „eigentliche Problem“: Die „Delfin-Quäler“ sind nicht im Binnenland zu suchen, sondern auf offenem Meer bzw. in einigen Küstenorten Japans oder auch auf den Färöer Inseln.
Bevor man Trainer, Ärzte und Zooleiter als „Tierquäler“ betitelt, sollte man also das entsprechende Delfinarium erst einmal selbst in Augenschein nehmen (zum Beispiel während eines Praktikums). Sonst kann man, wie ich finde, keine Aussagen machen über die Tierhaltung.
Delfinariumsgegner haben oft keine Ahnung, was sich hinter den Kulissen eines Delfinariums abspielt. Sie erfinden viel lieber Horrorszenarien, in denen „unglückliche“ Delfine ihren Kopf gegen Beckenwände rammen und mit von Chlor zerfressener Haut traurig durchs Wassers dümpeln.
Delfin-Lagune statt Delfinarium
In vielen Tiergärten wird gebaut, erweitert, geändert. Kein Zooleiter will sich vorwerfen lassen, die heutigen „artgerechten“ Tierhaltungsstandards nicht zu erfüllen. Doch was versteht man eigentlich unter „artgerecht“? Dr. Bernhard Blaszkiewitz – Zoodirektor im Tierpark Berlin – formuliert das so: „Artgerecht ist, womit eine Art zurecht kommt.“ So tappen Bären zum Beispiel an Mülltonnen, um sich daraus zu ernähren – obwohl dies keineswegs zu ihrem „natürlichen“ Verhaltensrepertoire gehört. Aber sie kommen mit den sich stetig verändernden Lebensumständen zurecht.
Die Delfin-Lagune in Nürnberg muss gebaut werden, da sie auf jeden Fall eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutet – und das kann doch nur im Sinne der Tierschützer sein …
*** Nachtrag Mai 2013: Die Delfin-Lagune ist im Sommer 2011 eröffnet worden. Die derzeit dort lebenden 7 Großen Tümmler haben sich gut an die Freiluftanlage gewöhnt. Mehr dazu hier: Unter den Delfinen.